Donnerstag, 20. November 2014
„…mein wirkliches Leben anzufangen, in welchem mein Gesicht endlich mit dem Fortschreiten meiner Arbeiten in natürlicher Weise wird altern können.“
(Franz Kafka, Tagebucheintrag vom 3.1.1912)
Liebster,
bei dem recht unbekannt gebliebenen Autor und Kafkaforscher Josef Mühlberger (1913-1978) las ich in einem Bändchen, das ich in der Bibliothek des Prager Literaturhauses fand, seine wirklich beeindruckenden autobiografischen Schilderungen zur Zeit der deutschen Besatzung Prags und seine eigene spätere Vertreibung aus dem Sudetenland. In diesen Aufzeichnungen schildert er eine Begegnung mit Max Brod in der Redaktion des Prager Tagblatts im Oktober 1938, kurz nach dem Einmarsch der Deutschen. Hier ein gekürzter Auszug seiner sehr eindringlichen Schilderung: „Die überfüllte Stadt erschien stumm, trotz der Unruhe der Menschen wie erstarrt, vor Beklommenheit und Angst, was nun kommen musste, gelähmt…. Die Stadt Franz Kafkas lag in einem Alptraum. Oder in Agonie? Ich ging in die früher oft betretene Herrengasse, ins Haus des Prager Tagblatts… Max Brod saß in seinem schmalen Redaktionszimmer, hockte hinter seinem mit Papieren und Büchern überladenen Schreibtisch, klein in dem Tohuwabohu, das so wüst wie immer war…
„Auch in Prag sind die Wände mit Hakenkreuzen bemalt – darin sind sich die Urfeinde, Tschechen und Deutsche, einig.“
„Gewiss. Hektik. Das wird sich legen. Man wird nichts übereilen müssen, man kann sich Zeit lassen.“ Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Wenn es so weit kommen sollte – wie bring ich den Kafka heraus?“… Er schaute mich an, dann sagte er aus einer Traurigkeit, deren Schatten oft über sein Gesicht glitt: „Kafka hat es mit seinem Wunsch, seine Handschriften zu vernichten, ernst gemeint, wie er alles immer nur ernst gemeint hat. Wie oft fragt man mich: Warum hat er es nicht getan? Dumme Frage! Er hat gelebt, indem er schrieb… Hätte er, solange er lebte, vernichten sollen, wodurch er lebte? Das wäre einem Selbstmord gleichgekommen… Hatte ich ein Recht, das Werk, das sein Leben gewesen und zum Vermächtnis eines Toten geworden ist, zu vernichten? Ich bin kein Mörder.“ Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Geht es nur um Kafka? Es geht auch um mich. Kafkas Werk ist wie sein Stück Leben ein Stück von mir geworden. Mehr noch als das! Dieses Werk vernichten, wäre für mich einem Selbstmord gleichgekommen.“
So unmittelbar von einem direkten Zeitzeugen berichtet, leuchtet mir diese Erklärung absolut ein und macht mich betroffen. Es handelt sich, wie man sich eigentlich denken kann, um weit mehr, als das Retten unschätzbarer Texte der Weltliteratur. Dahinter steht auch ein ganz persönliches Schicksal und Dilemma.
In einer Erzählung Mühlbergers, die er „Besuch bei Kafka“ nennt, schildert er außerdem eine fiktive Begegnung mit Kafka auf dem tschechischen Ehrenfriedhof Vysehrad. Sie inspirierte mich zu nachfolgendem Text, wie ich mir einen „Besuch bei Kafka“ vorstellen könnte.
„Ach, kommen Sie doch herein, in meine Mönchsklause“, sagte Kafka und trat einen Schritt beiseite, beinahe unmerklich, um mich vorbeizulassen. Ich hatte Scheu, das kleine Häuschen zu betreten. Zu intim, zu nah schien mir diese Schreibhöhle, doch da er dabei war, gebot schon allein die Höflichkeit, seine Einladung anzunehmen. Dennoch kam ich mir wie ein Voyeur vor. Ich verschränkte die Hände auf dem Rücken und wagte den Schritt über die Schwelle, in einen winzigen Flur, links sah ich eine schmale niedrige Tür, die zum Abort führte – dort mochte er einen Eimer stehen haben, fließendes Wasser gab es hier im Alchimistengässchen doch wahrscheinlich nicht.
Mit nur wenigen Schritten stand ich bereits mitten in dem winzigen Zimmer und drehte mich, etwas beklommen und scheu nach meinem Gastgeber um. Er schloss die Tür und folgte mir. „Es gibt leider“, sagte er, „keinen zweiten Stuhl. Wissen Sie, niemand besucht mich hier und das ist normalerweise auch gut so. Nur meine Schwester kommt manchmal. Sie bringt das Essen…oder… holt das leere Geschirr wieder ab. Sie umsorgt mich.“
Ich stand etwas hilflos herum, die Hände noch immer hinter dem Rücken verschränkt und nickte. Es war schon dämmrig in dem kleinen Raum, deshalb hatte ich Angst, er könnte mein Nicken nicht bemerken und sagte schnell: „ Ja. Danke, dass ich es mir anschauen darf.“
„Nehmen Sie doch Platz“, sagte er und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den Holzstuhl, der vor dem kleinen Holztisch am Fenster stand. „Aber…“, setzte ich zögernd an, „das ist doch… Ihr Arbeitsplatz.“ Er lachte. „Nicht, wenn Sie hier sind!“ sagte er.
Es schien ihn außerordentlich zu amüsieren. „Sie werden sich ja nicht festsetzen! Oder gar einnisten! Denn in dem Falle wäre ich gezwungen…“. Er vollendete den Satz nicht, ließ ihn locker ins Schweigen versickern, aber das war nicht unangenehm. Die Stille hing einen Moment zwischen uns.
„Um Himmels Willen!“ rief ich aus, „ich bleibe nur ein paar Minuten. Ich komme mir sowieso schon wie ein Eindringling vor.“
„Eindringling?“ Seine großen, dunklen Augen ruhten auf mir. „Nein, nein. Das besorgen andere. Ich habe Sie ja eingeladen.“
„Es ist mir eine Ehre.“ Ich zog den Stuhl so unauffällig wie möglich ein klein wenig vom Tisch fort, er schabte über den Boden, und setzte mich vorsichtig. Er knarrte etwas, war hart und kalt. Ein wenig verlegen begann ich, mich umzusehen. Auf dem Tisch gab es eine Lampe, ich konnte in der Dämmerung nicht erkennen, ob es eine Petroleumlampe war oder ob es hier im Häuschen Storm gab. Er zündete sie nicht an. Er stand etwas rechts von mir in der Tiefe des kleinen Raums, eine schwarze schmale Gestalt im halben Licht. Durchs Fenster sah ich hohe Baumstämme, die sich in einen Abgrund verloren. Er schien meinem Blick zu folgen. „Der Hirschgraben“, sagte er. „Aber im Grunde sehe ich nichts davon. Ich komme immer nach Einbruch der Dunkelheit, dann ist es einfach schwarz vor dem Fenster, sehr schön und sehr still.“ In seiner Stimme klang etwas Sehnsüchtiges.
„Das ist wunderbar für Sie, dass Sie diesen Ort gefunden haben“, sagte ich. Ich wagte es, die Tischplatte zu berühren. Sie fühlte sich glatt und speckig an, beinahe wie Stein. Neben der Lampe lagen einige schmale Hefte, sämtlich mit schwarzem Einband, die Kanten sehr ordentlich aufeinandergelegt. Sie sahen wie die Schulhefte eines besonders akribischen Schülers aus. Meine Hand zuckte, doch ich beherrschte mich und berührte sie nicht.
„Das ist nichts“, sagte er, „ein paar Tagebuchaufzeichnungen. Nichts von Bedeutung. Und dort“, er deutete nach links, „das sind lauter Anfänge.“
„Anfänge?“
„Ja, ich sitze da unter anderem an etwas, ich nenne es Das Schloss. Nichts Großes. Auch noch kein guter Titel, oder? Was meinen Sie?“
Mein Herz klopfte spürbar, ich befand mich in einer Zwickmühle. Sollte ich ihm sagen, dass ich aus der Zukunft kam, dass ich bereits wusste…
„Es kommt darauf an“, erwiderte ich vorsichtig.
„Worauf?“ Plötzlich schien er hellwach.
„Nun, worum es sich dabei handelt.“
„Sie meinen, um was es geht? Das kann ich noch nicht sagen.“ Ich hörte, dass er log und er schien das zu bemerken und setzte unschlüssig hinzu: „Eine Variation des immergleichen Themas. Die Menschen. Ihre Macht. Ihre Machtlosigkeit.“
„Ein Roman?“ wagte ich mich vorzutasten.
„Vielleicht“, sagte er leichthin. „Ein Luftgebilde. Wie gesagt. Nichts Weltbewegendes.“
Ich hatte den Eindruck, er wollte gern das Thema wechseln. In der Tat sah ich weiter nichts in dem kleinen Zimmer, keinen Schrank, kein Regal mit Büchern. In seinem Rücken befand sich noch ein kleines Fenster. Dankbar folgte er meinem Blick. „Es geht auf die stille Gasse hinaus“, sagte er erleichtert, „Sie können mich gleich ein Stück hinunter begleiten, auf meinem nächtlichen Weg in die Stadt. Das wird Ihnen gefallen.“
„Bleiben Sie denn nicht hier, um zu arbeiten?“ Das Gefühl, ihm im Weg zu sein, war bei mir zurückgekehrt. Ich wollte seine kostbare Zeit nicht stehlen, die wenige Zeit, die er, wie ich wusste, zum Schreiben hatte. Doch er wusste nichts von meinem schlechten Gewissen.
„Ach nein. Sagen wir, heute ist ein Feiertag.“
„Oh, warum das?“
„Weil Sie da sind. Das ist etwas Außerordentliches, finden Sie nicht auch?“
„Sie meinen, weil Sie sonst niemals hier Besuch haben?“
„Richtig. Ich kann Ihnen deshalb auch gar nichts anbieten.“
„Oh, Gott bewahre, das müssen Sie nicht!“ Ich stand schnell auf, wir standen uns einen Augenblick gegenüber.
„Ich möchte Sie wirklich nicht stören. Das Beste wird sein, ich gehe und lasse Sie allein.“
„Allein bin ich immer und sowieso. Ich gehe gern ein Stück des Wegs mit Ihnen zurück.“
Etwas schien sich in der linken Ecke des Zimmers zu bewegen. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Mit kaum drei Schritten hätte ich es erreicht. Konnte es ein Schatten sein? Doch ohne Licht war das kaum möglich. Ich sah hin. Da war nichts.
„Manchmal gibt es Käfer“, sagte er und lächelte. „Aber wer fürchtet sich schon vor einem kleinen Insekt.“
Auf einmal wurde mir kalt. Was hatte ich erwartet? Einblick in seine Hexenküche zu bekommen? In sein Geheimnis eingeweiht zu werden? Etwas wie ein Fluchtimpuls ergriff mich.
„Ich bin froh, dass Sie diesen Ort zum Schreiben gefunden haben“, wiederholte ich tapfer und zog mich langsam in Richtung Tür zurück.
„Ach, man könnte auch sagen, es ist das letzte Mauseloch, das sie mir gelassen haben“, sagte er auf einmal ernst und er klang ein wenig resigniert. „Wissen Sie, wenn es so mit der Welt bestellt ist, dass sich ein Mensch, nur weil er schreiben will, an einen solchen Ort begeben muss… Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin sehr froh, dieses Häuschen zu haben. Doch bei Licht besehen…“. Er machte eine Pause, die eine Spur zu lang war. „Das ist es eben, was es mit dem Schreiben auf sich hat. Hüten Sie sich am besten davor, wenn ich Ihnen ein Rat geben darf. Setzen Sie sich nicht in ein solches Mauseloch. Gehen Sie ins Licht, in die Wärme, unter die Menschen. Wenn ich das tue, wissen Sie, dann habe ich immer das Gefühl, das EIGENTLICHE zu versäumen. Uneinholbar. Das ist ein Fluch. Ich möchte einmal mein wirkliches Leben anfangen. Das einzige Leben dahinter, darunter, unter allem. Ach, was sage ich Ihnen. Nehmen Sie es als das unverständliche Feierabendgeschwätz eines überlasteten Beamten.“
„Ich denke, Sie sollten an sich glauben“, erwiderte ich und bemerkte, dass ich inzwischen wieder draußen auf der Straße stand. Ich atmete tief die kühle Luft ein. Zu meinem Erstaunen war es bereits vollständig dunkel geworden.
Er zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrte die Tür zu.
„So ein ganzes Haus sein eigen zu nennen und es verschließen zu können vor der Welt. Das tut wirklich gut. Kommen Sie, da entlang.“
Er führte mich durch die Höfe der Prager Burg, vorbei am schwarz ruhenden Gebirge des Doms. Die Straßenlaternen warfen ein müdes, wattiges Licht auf das Pflaster. Wir gingen eine Weile schweigend.
„Ich glaube doch an mich“, sagte er auf einmal unvermittelt. „Ja, das ist das Einzige, woran ich wirklich glaube, wissen Sie. Oder eigentlich nicht an mich. An etwas, das in mir ist und das heraus will. Ich bin dafür da, ihm ans Licht zu verhelfen. Es wird mein Leben kosten. Aber andererseits…“. Er unterbrach sich, um zu lachen. Mir schien, er lachte gern. „Nur deshalb lebe ich ja! Dasselbe ist paradox, nicht wahr? Es ist wie eine Wurzel, die tief in den Boden reicht. Wie bei einem Baum. Er wird abgeschlagen werden oder der Sturm zerfetzt ihn am Ende. Aber die Wurzel…“.
Die Domglocken schlugen, so dass ich erschrak. Es klang, als sei schon Mitternacht. War denn die Zeit so schnell vergangen? Das konnte nicht sein.
„Die Wurzel“, sagte er, auf einmal wieder ernst. „Wissen Sie. Die bleibt ja im Boden.“
In Liebe,
Deine
PS.: Die gekürzte Zitatpassage von Josef Mühlberger ist dem Buch „Besuch bei Kafka, Schriften von Josef Mühlberger zu Franz Kafka“, Einhorn-Verlag+Druck GmbH, Schwäbisch Gmünd, 2005, entnommen.